Gestrig, heutig & unwiderstehlich melancholisch
Peter Weirs »Der Club der toten Dichter« (1989) ist der Klassiker der Internatsfilme, wenn man die Heinz-Rühmann-lastige deutsche Klamottenkiste außen vor lässt. Christophe Barratiere gelang 2004 mit »Die Kinder des Monsieur Mathieu« ein anschlussfähiger Geniestreich. Ja, Harry Potter spielt auch im Internat, aber siehe Heinz Rühmann. Jetzt hat Alexander Payne (»About Schmidt«, 2002) den Staffelstab an sich gerissen, seinen hellwachen zeitgenössischen Blick mit den ästhetischen Mitteln der 1970er Jahre verschnitten und ein als Wohlfühlfilm getarntes Filmkleinod geschaffen.
Eine Notgemeinschaft von drei Übriggebliebenen (ein Lehrer, eine Köchin, ein Schüler) muss über die Weihnachtsfeiertage in einem Internat ausharren und miteinander auszukommen lernen. Die Gegensätze scheinen unüberbrückbar: Die Köchin ist gänzlich in der Trauer um ihren in Vietnam vermissten Sohn gefangen, der (renitente) Schüler von seiner zerbrochenen Familie im Stich gelassen. Und der Pauker ist eh kaputt. Dabei steht er mitten im Leben, umtost vom Campusgedränge. Paul Giamatti gibt seinem schnapszerfressenen Geschichtslehrer Paul Hunham eine abgrundtiefe Verlorenheit, selten sah man im Kino eine verlassenere, vom Alltag und den gar nicht so besonders schlechten Umständen abgeschabtere Figur. Nur die Begeisterung für sein Fach hält ihn aufrecht und die Verachtung denkfauler Kinder reicher Leute, die er bei mangelnder Leistung genussvoll abstraft. Giamatti dekliniert sich mit seinem herausragenden Spiel und vollem mimischen Einsatz durch eine Fülle erloschener Optionen, die ein Leben bereit hielt. Mehr Melancholie geht nicht. Was seiner gebeutelten Lehrerfigur aber nie abhanden kommt, ist Würde, ein untrügliches soziales Empfinden und Augenmaß für Gerechtigkeit.
Die Auseinandersetzungen der Schicksalsgefährten führt die Regie über erstaunlich leichtfüßige, teils slapstickhafte Situationskomik und Verweise auf die kulturellen Unterschiede zur Jetztzeit. Große Mengen an Tabak und Schnaps werden zu jeder Tageszeit unbeanstandet konsumiert, gewaltige Rühreier-, Speck- und Wurst-Mahlzeiten verdrückt. Im Fernsehen wird Arthur Penns »Little Big Man« goutiert, draußen liegt tiefer Schnee, die Aussichten sind schlecht, im Hintergrund lauert weiter der Vietnamkrieg. Was man tun kann: Sich aufrichten. Menschlich sein. In der weihnachtlichen Leere des Internats entsteht eine sanft vor sich hin witzelnde, verschworene kleine Gemeinschaft. Ein vorhersehbares Ende. Doch in dem der Film Gemeinschaft, Zusammenhalt, Güte und Vernunft feiert, legt er den Finger auf eine Wunde der arg ichbezogenen Gegenwart. Mit der atmosphärisch dichten Erzählung einer noch nicht gar so lange vergangenen Welt, gedreht in atemberaubenden, körnig-verwaschenen Kameraeinstellungen, zeigt er noch etwas anderes. Das Amerika der 1970er Jahre mutet in der Rückschau fast unschuldig an. Dieser Eindruck macht »The Holdovers« verblüffend aktuell.
Grit Dora