Der Verdingbub

Drama, Schweiz/Deutschland 2011, 107 min

Mitte des letzten Jahrhunderts. Ein toter Junge wird von einem Bauernhof weggebracht. Die spröde Bauersfrau fährt sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. Dass sie über den Verlust nicht etwa weint, sondern auch sonst ständig mit dem Taschentuch vor dem Mund herum wischt - das erfährt man erst später. Der Pfarrer bringt kurz darauf einen neuen Bub: „Achtet darauf, dass er länger durchhält.“ Nach einer verhaltenen Begrüßung werden ihm die Schuhe weggenommen: „Die gehen nur kaputt“ sagt die Bäuerin Bösiger, gespielt von Katja Riemann, verkniffen, voller Verbitterung und vom Kampf ums Überleben gezeichnet.
Es geht sehr hart zu, da oben in den Schweizer Bergen. Nicht etwa, weil das alles böse Menschen sind, sondern weil es meist ums Überleben geht und nie etwas übrig ist. Mal verfaulen die Kartoffeln, mal rafft eine Krankheit das Vieh dahin: Die Menschen sind den so genannten Launen der Natur ausgesetzt, da sind Zuneigung und menschliche Wärme purer Luxus.
Der Film, den in der Schweiz 235 000 Zuschauer im Kino sahen, kommt jetzt in hochdeutscher Synchronfassung zu uns, das Original ist vermutlich authentischer, aber für uns völlig unverständlich. Es geht um die Verdingkinder Max und Berteli, die auf dem Hof der Bösigers schuften müssen. Sie helfen sich ein wenig gegenseitig, und für Max ist die Handorgel eine Ablenkung vom rauen Umgangston - er geht völlig in der Musik auf und beherrscht das akkordeonähnliche Instrument sehr gut. Eine junge Lehrerin in der Dorfschule erkennt sein Talent und sieht die Schikanen, denen die Kinder ausgesetzt sind. Diese schmieden inzwischen schon Pläne nach Argentinien auszuwandern, weil sie es nicht mehr aushalten.
In der Schweiz hat der erste Spielfilm über das Schicksal der so genannten Verdingkinder Aufsehen erregt, er hat ins Bewusstsein gebracht, was viele nicht wussten: Dass bis in die 1950er Jahre hinein uneheliche oder Waisenkinder unter Billigung von Pfarrern, Ärzten und den Behörden unter sklavenähnlichen Bedingungen auf den Höfen arbeiteten. Damals gab es kein Mitleid für die Opfer. Erst 2012 erfolgte eine Entschuldigung durch den Kanton Freiburg - wie zuvor in Waadt, Bern, Luzern und Thurgau. In der Schweiz leben derzeit noch ca. 10 000 Betroffene, es gibt Gespräche über Entschädigungszahlungen.
Petra Wille