1. November 2023

Wortkarg und zuverlässig – der große Finne ist zurück, eine Kolumne von Grit Dora

Die maßvolle zeitliche Zurückversetzung und auch seine ausgesucht schräge Musikauswahl lassen seine Werke zeitlos und visionär wirken.
Wortkarg und zuverlässig – der große Finne ist zurück, eine Kolumne von Grit Dora

Fünf Tage nur will er für die Story seiner, wie er selber sagt, romantischen Komödie »Fallende Blätter« gebraucht haben, man mag ihm das auch gern glauben. Aki Kaurismäkis Filme sind nicht besonders vielfältig oder abwechslungsreich, er variiert sein Grundthema, Geschichten von kleinen Leuten in prekären Verhältnissen, die totale Ausweglosigkeit halten sie gerade noch mit einem Lidschlag auf Abstand. Er liebt seine wortkargen Figuren, die Kamera verweilt stets lange auf den Gesichtern seiner Protagonistinnen. (Hinter der Kamera steht schon seit den 1980ern Timo Salminen.)

Humanität, Solidarität, Sehnsucht nach Liebe sind Kaurismäkis Themen, Respekt ist sein Credo. Mit Würde tragen die Menschen in seinen Filmen das Gewicht des Lebens. Ob im Schweißer-Skaphander oder im Kassiererinnen-Kittel, der Finne verleiht ihnen Glanz und Poesie, hat ähnlich wie Chaplin, eins seiner großen Vorbilder, keinerlei Berührungsangst vor Sentimentalität und auch einen ähnlichen Humor. Man könnte ihn einen Märchenonkel nennen, er zeigt gern provisorische Ausgänge, die man nach Filmende als Leinwandträume verinnerlicht.

»Fallende Blätter« ist dafür das neueste Beispiel. Kaurismäki schreckt nicht einmal vor Wundern zurück (»Le Havre«), er boykottiert die Realität, indem er auf das Prinzip Hoffnung setzt. Melancholisch, lakonisch lächelnd, schelmenhaft. Den Zeitgeist lässt er achselzuckend beiseite, aktuelle Benutzeroberflächen spielen für ihn keine Rolle. Die maßvolle zeitliche Zurückversetzung in eine den 1960er Jahren am nächsten kommende Ästhetik und auch seine ausgesucht schräge Musikauswahl lassen seine Werke zeitlos und visionär wirken. Aki Kaurismäki macht nun seit gut 40 Jahren verdammt gute und irgendwie besonders verlässliche Filme. Er, der sich öffentlich eher wegduckt und bei ungeliebten Auftritten (Cannes!) mit seiner Zurückhaltung kokettierend, gern hinter den Rücken seiner Schauspieler in Deckung geht, ist einer der ganz Großen. 2017 hat er nach dem Start von »Die andere Seite der Hoffnung«, seinen Rückzug vom Film erklärt und ihn zum Glück nicht durchgehalten.

Er macht weiter. Der Mann ist reif für den Olymp. Man stelle sich vor, beim jährlichen Treffen des Regie-Berufsverbandes in göttlichen Wolken fänden sich Stanley Kubrick, Robert Bresson, Jane Campion, der frühe Peter Jackson, Jim Jarmusch, Sofia Coppola, Werner Herzog, Charlie Chaplin, Fritz Lang und Greta Gerwig zum kollegialen Palaver zusammen. Rainer Werner Fassbinder würde aussehen wie Russel Crowes Zeus in »Thor – Love and Thunder«, säße sediert auf Douglas Sirks Schoß und schwänge das große Wort. Wes Anderson kniete mit der neuesten Modelleisenbahn unterm Tisch, Ruben Östlund wäre mit seiner schicken Frisur beschäftigt, die Coen-Brüder hätten sich wie immer entschuldigt. Trotz des hohen Geräuschpegels fiele Anders Thomas Jensen irgendwann der eine unbesetzte Stuhl an der großen Tafel auf. Er ginge kurz hinaus zu Aki Kaurismäki, der Kette rauchend vor der Tür stünde. Jensen: „Kommste?“ Kaurismäki: „Ich bin nicht zum Quatschen hier.“ Und verschwände gemessenen Schrittes im Nebel.

Grit Dora

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