24. August 2021

Mehr Selbstsicherheit und Mut mit Promille

Alkoholexperiment oder massiver Alkoholmissbrauch? »Der Rausch«, Kritik, Pro & Contra
Mehr Selbstsicherheit und Mut mit Promille

Pro

Mit leerem Blick, nahezu regungslos, die Stimme monoton, sitzt der Geschichtslehrer Martin vor seiner Klasse. Hinter seiner Stirn scheint ein Stundenglas installiert, der Sand rieselt, die Lebenszeit vergeht. Martins Schüler lehnen sich gegen ihn auf, die Eltern beschweren sich, seine Familie, die Frau, die beiden Kinder nehmen ihn nur noch als Inventar wahr, er scheint unsichtbar. „Bin ich langweilig geworden?“, fragt er seine Frau. „Im Vergleich wozu“, antwortet sie.

Thomas Vinterbergs Film »Der Rausch« ist das Porträt eines Erloschenen, der wieder aufflammt, dank eines Alkoholexperiments. Die Rolle des Martin hat Vinterberg Mads Mikkelsen auf den Leib geschrieben, der füllt sie mit schmerzhafter körperlicher Präsenz aus. Flankiert von seinen kongenialen Kollegen Tommy (Thomas Bo Larsen), Nikolaj (Magnus Milang) und Peter (Lars Ranthe) absolviert Martin bei kontinuierlich steigender Promillezahl eine Tour de Force. Die bei einem Geburtstagsessen entstehende Idee zum Selbstversuch lässt sich gut an, die Körper straffen sich, der Elan kehrt zurück, die Eloquenz. Es gelingt den vieren wieder, ihre Schüler zu begeistern und auch daheim kommt Bewegung in die eingefahrenen Beziehungen. Die wiedergewonnene Lebensfreude scheint noch steigerungsfähig, jugendliche Verausgabungslust stellt sich ein. Also wird nachgelegt, die Dosis gesteigert – mit den bekannten Folgen, die Vinterberg deutlich in Szene setzt, ohne plakativ zu werden. Er balanciert gekonnt auf dem schmalen Grat, zeigt Glanz und Elend ohne zu werten, stellt Entgrenzungswonne neben Kontrollverlust, lässt auf die Freude am Trinken bis zum Festplattenverlust den harten Rinnsteinaufschlag folgen. Die Paarbeziehungen, soweit vorhanden, leiden, die Ehefrauen zeigen null Toleranz gegenüber der pubertär wirkenden Sauflust, dem Kotzen, Bettnässen, den, der zunehmenden Trittunsicherheit geschuldeten, geschundenen Gesichtern. Auch das Lehrerkollegium hat Witterung aufgenommen, im Geräteraum sind die Getränkeverstecke aufgeflogen. Die vier brechen das Experiment ab, es ist höchste Eisenbahn, für einen kommt die Notbremsung zu spät. Am Schicksal des Sportlehrers zeigt Vinterberg, dass nicht jeder Mensch die freie Wahl der Mittel hat. Dennoch beharrt er auf der Freude am Rausch als subversivem Widerstand gegen das nahezu vollständig durchregulierte Leben. 

»Der Rausch« ist nebenbei auch eine Ode auf die Freundschaft und die Unbekümmertheit der Jugend. Für diese Vielschichtigkeit, für die Verletzlichkeit der Protagonisten, für das atemberaubende Spiel der vier Buddies gab es denn auch den OSCAR.

Grit Dora

 

 

Contra

 

Seien wir doch mal ehrlich: so sympathisch uns der dänische Regisseur Thomas Vinterberg, seine Rede bei den Oscars 2021 (hier wurde er mit dem Oscar für den Besten Internationalen Film ausgezeichnet) und auch sein Hauptdarsteller Mads Mikkelsen sind, geht es in »Der Rausch« doch nur darum, sich zu betrinken. Der massive Alkoholmissbrauch wird deutlich zu positiv und harmlos dargestellt. Und auch wenn das Ganze unter dem Deckmantel einer experimentellen Studie firmiert, sind es doch im Grunde einfach nur vier mittelalte Männer, die beschließen, nicht mehr nüchtern zu sein. 

Vinterberg fängt hier eine andere Art der Midlife-Crisis ein. Inszeniert ist der Film selbstverständlich tadellos – der Regisseur bleibt auch hier seinen Prinzipien und seinem Stil treu, die man bereits bei seinen Filmen »Das Fest« und »Die Jagd« kennen und schätzen gelernt hat. Einwandfrei ist auch die Kameraarbeit, welche es schafft, die Protagonisten in ihrer alltäglichen Umgebung so einzufangen, als wären sie scheue Tiere, welche das Laufen in ihrem Gehege erst wieder erlernen müssten. 

Der ganze Film ist mit einem hohen Authentizitätsanspruch umgesetzt, jedoch erlaubt er sich auch cineastische Höhepunkte, die das Leben und so auch das Kino als Medium feiern. Getragen wird er natürlich von seinem großartigen Ensemble, allen voran Mads Mikkelsen, der sich mit großem Geschick in die unterschiedlichsten Rollen hinein fühlen kann. So sah man ihn schon als Bond-Bösewicht, als unfreiwilligen Westernhelden und hier nun als Lehrer, der seinen Schwung verloren hat. 

Doch trotz all dieser positiven Aspekte fällt es mir als Zuschauerin schwer, Nähe zu den Figuren aufzubauen. Ich frage mich unweigerlich: Ist ihr Leben wirklich so schrecklich, dass sie ihm nur mit Alkohol entkommen können? Es sieht für die Betrachter nicht so aus – natürlich kann der Alltag, den wir alle auch kennen, anstrengend sein. Aber statt den Kopf in den Sand zu stecken, könnten sie es einfach selbst in die Hand nehmen, etwas zu ändern und das ganz ohne Alkohol. Mehr Courage und Engagement wagen, wäre hier ein gutes Motto. Alkohol sollte nicht als Ausweg aus ihrem eigenen Mitleid dargestellt werden. Wenn man das alles nicht so streng sieht, kann man sich von dem Film trotzdem sehr gut unterhalten lassen (vor allem Mads’ Tanzszene am Ende ist ein Genuss), und sich auch von der Stimmung mittragen lassen. Trotzdem bleibt der Film selbst mit den vorgeführten negativen Konsequenzen eine unnötige Verherrlichung des Alkohols und das ist etwas, was ich als Zuschauerin auf der Leinwand im Kontext eines realitätsnahen Dramas nicht sehen möchte.

Doreen

http://www.weltkino.de/filme/der-rausch