15. September 2020

Unter Hunden und Müllbergen

»Die obskuren Geschichten eines Handlungsreisenden« als paranoides Kopfkino von Fritz Moreno, Kritik, Pro & Contra
Unter Hunden und Müllbergen

Ist der Erstling des spanischen Regisseurs Aritz Moreno nun großes Kino oder doch nur zwar bildgewaltige aber uninspirierte Verneigung vor den Klassikern? Oder kann er in einem Atemzug mit Luis Buñuel und Pedro Almodóvar genannt werden? Und, um was in aller Welt kreist sein Werk – Sodomie, Pädosexualität oder gar die Liebe? So viele Fragen, unsere Autoren versuchen, eine Antwort zu finden. 

Pro

Manchmal ist der Filmtitel ja ganz schöne Schwindelei: Die unendliche Geschichte war nach reichlich eineinhalb Stunden vorbei und beim »Klassentreffen 1.0« ging es gar nicht so sehr um selbiges, sondern darum, den nackten Hintern von Til Schweiger im Kino anschauen zu können! Bei den »Obskuren Geschichten eines Zugreisenden« hingegen stimmt alles: Die Hauptperson reist im Zug und seine Geschichten sind wahrlich obskur. Regelrecht bizarr, am Anfang sogar recht verstörend, dann wieder lustig, verwirrend, ekelhaft und auch ein bisschen errrrotisch. Außerdem empfiehlt es sich, bis zur letzten Sekunde zuzuschauen, um die eigene Verwirrung auf die Spitze zu treiben. 

Das Spielfilmdebüt von Aritz Moreno kann sich durchaus sehen lassen, auch wenn die wilde Geschichte ihre Längen und Löcher hat. Denn die gesamte Mannschaft spielt gekonnt und trägt das Wirrwarr durch alle Episoden – auch die Überflüssigen. Auch ist die Kamera- und Lichtarbeit von Javier Agirre zu loben, die mit ihren besonderen Blickwinkeln und Einstellungen das Obskure der Geschichte zu betonen versteht.  

Insofern hebt sich der Film insgesamt positiv von der gängigen Kinokost ab (vor Corona, v.C.). Bedenkt man, dass man in Hollywood nach wie vor vor allem Comichefte verfilmt und die ewigen 12 gleichen Schauspieler ins Rennen schickt, sind auch die spanischen Akteure ein Wohltat fürs Auge. Ganz besonders, wenn sie in Person von Stéphanie Magnin Vella zur Premiere am Elbufer direkt neben einem sitzen. (Hier Herzchen Smiley einfügen). 

Pinselbube

Semi-Contra

Helga kommt nach Hause, ihr Emilio sitzt entspannt auf dem Sofa, versonnen stochert er in Exkrementen auf dem Couchtisch, daneben steht die Likörflasche. Großaufnahme von Kameramann Javier Aguirre, der durchweg mit ambitioniertem Blick brilliert und auch die Fischaugenkamera souverän im Griff hat. Zur Wiederkehr der Wurst in diesem Film gleich weiter unten, sie spielt eine bedeutsame Rolle. Helga jedenfalls wirkt nur mäßig überrascht von Emilios Tun. Ohne großes Brimborium, nahezu lieblos, sackt sie ihn ein und fährt in eine entlegene psychiatrische Klinik am anderen Ende des Landes. Sie lässt den Gatten in den Händen von Ärzten zurück, die mit Oldschool-Methoden arbeiten. Warum diese vorsintflutlichen Mittel der Ehefrau keine Bauchschmerzen machen, erweist sich in einer der nächsten Episoden. Auf der Rückreise per Bahn spricht sie im Abteil der plauderhafte Psychiater Ángel Sanagustín an. Schon mal was von Schweigepflicht gehört? Nö! Seine Patientengeschichten entwickeln ein rasantes Eigenleben, bis der Doktor urplötzlich abhanden kommt. Helga, sie ist Verlegerin, greift zu Sanagustíns liegengebliebener Mappe. Der Psychiater, er wird wieder auftauchen, in einer anderen, tja … Konfiguration. 

»Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« sind schon was für die große Leinwand, nicht gerade ein Traum, eher ein bildgewaltiges schwarzhumoriges Albdrücken. Die Eröffnungssequenz steht leitmotivisch für das wiederkehrende Beackern von fäkalen Phantasien, Obsessionen, Neurosen. Sie ist aber nur eine der vielen Spuren, die Regisseur Aritz Moreno fluffig aneinander hängt und mal lose verknüpft, mal ins Leere laufen lässt. Es geht um Müll und seine Bedeutung für Verschwörungstheoretiker, einen Snuff-Movie-Kinderhändlerring, Soft-Pornos, die aufkeimende romantische Liebe zweier Körperbehinderter auf einer Gruppenreise in Paris und ein Hunde haltendes Pärchen. 

Moreno arbeitet sich mit Verve an der Buchvorlage „The Advantages Of Travelling By Train“ seines Landsmannes Antonio Orejudos ab. Er hat ein Händchen fürs Bizarre und einen Hang zur Retro-Optik. Überzeugend zeigt er, wie eine alltägliche Beziehung schleichend in Extreme abrutscht und wie schwer es sein kann, sich dagegen zu wehren. Bei Grenzüberschreitungen geht Moreno gern ein paar Schritte weiter als üblich. Dabei bedient er sich nicht realistisch dargestellter Gewaltphantasien, sondern arbeitet mit theatraler Überzeichnung. Mit diesem Mittel drückt er die Handlung ins dunkelschwarz Komödiantische, bevor sie ins Unerträgliche abzugleiten droht. 

Leider gefallen ihm seine eigenen Bilder so gut, dass er immer zu lange drauf hält. Diese Selbstgefälligkeit schwächt den sportlichen Gesamteindruck und verstärkt die dramaturgischen Mängel. Ganz klar ist der Baske ein Augenmensch, die titelgebenden Geschichten kommen erst an zweiter Stelle. Morenos Vorbilder sind mühelos erkennbar, Buñuel für die Inhalte, Almodóvar für die Optik, Jeunet für den Retro-Charme. Zu epigonal das Ganze. Schön wäre gewesen, jemand wie Helga, die wirklich starke Frau des Filmes, gespielt von der großartigen Pilar Castro, hätte verlegerisch-dramaturgisches Handwerk und Gespür einbringen dürfen. Oder die Struktur zertrümmern. Etwas Konsequenz halt. Was bleibt, sind ein paar krude Eindrücke (teils nix für den schwachen Magen) und etliche offene, leider wenig produktive Fragen. Der klatschbunte überdimensionale Mülltütenberg neben dem Haus des Psychiaters bleibt als hübsches Zeichen für den riesigen Anspruch eines Regisseurs, der den krassen Bildern seiner Vorlage die Schärfentiefe verweigert. 

Grit Dora

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