29. Oktober 2019

Klassenkampf & schrecklich nette Familien

Kritik, Pro & Contra - »Parasite«
Klassenkampf & schrecklich nette Familien

Ist das Klassenkampf einer schrecklich netten Familie? Klassenkampfkomödie, Thriller, Social Drama oder gar ein neues Genre? Der Südkoreaner Bong Joon-ho überrascht mit einer ausgezeichneten Goldene Palme-Folie oder ist der Film doch nur Zeitgeist? Unsere Autoren sind sich da nicht ganz einig. 

 

Pro

Bei Fassbinder implodieren die Menschen, bei Bong explodieren sie. Doch der Reihe nach. Familie Kim lebt in ärmlichen Verhältnissen ganz unten auf der sozialen Leiter. Im wahrsten Sinne des Wortes: Ein Souterrain am Ende der Gasse, der Putz blättert ab, in den Ecken breitet sich Schimmel aus, Besoffene pinkeln außen gegen die Wand. Die Eltern sind arbeitslos, die fast erwachsenen Kinder, der Sohn Ki-woo und die Tochter Ki-jung halten die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Das Glück wendet sich, als ein Freund Ki-woos mit einem seltsamen Stein erscheint und eine Nachhilfestelle bei einer vermögenden Familie am oberen Ende der Stadt vermittelt. Im mondänen, von einem berühmten Architekten entworfenen Haus der Familie Park soll er der Tochter Englischstunden geben. Es ist der Beginn einer seltsamen Beziehung der beiden Familien, denn bald arbeiten alle Kims für die Parks. Für Familie Kim scheinen gute Zeiten anzubrechen.

Trotz schier grenzenloser Anpassungsfähigkeit und Selbstausbeutung haben die Unterprivilegierten keine Chance, statt sich zu verbünden, wenden sie sich gegeneinander. Die Minorität der Villenbewohner wird diesen nahezu makellosen Film mit anderen Augen sehen als sich die an der Unterkante der Mittelschicht abstrampelnde Mehrheit in den Metropolen.

Bong Joon-ho setzt das stark in Szene: die Symptome des deklassierten Daseins: Raummangel, Reizüberflutung, Überforderung. Überhaupt sind die Stärken des Films seine Offenheit und die großen Interpretationsspielräume, die er liefert. Auch wenn es oberflächlich wie eine leichte Komödie mit verspielten tarantinoesken Gewaltausbrüchen wirkt, es ist eine in komödiantischen Geschenkkarton verpackte knallharte Anklage, ein Aufruf zum Klassenkampf. Denn auch temporäre Erlösung erscheint nur durch Gewalt möglich.

Scheinbar unwesentliche Details bindet Bong wie nebensächlich aber von grundsätzlicher Bedeutung ein. So spielt der Geruch eine zentrale Rolle. Der Stallgeruch der Reichen und der Gestank der Deklassierten, der feine aber immer präsente Geruch des Souterrains – oder besser des Kellers. 

Auch den Naturgewalten, in diesem Fall einem Starkregen, sind die Mittellosen ausgeliefert. Die Szene kurz vor dem Ende lässt im wahrsten Worte alle Hoffnungen den Bach runtergehen. Die Bewohner der Unterstadt erwachen am nächsten Morgen in einer Turnhalle, traumatisiert und geweckt von den üblichen Sprüchen der Politiker in TV-Kameras.

Die Bildgestaltung ist von großartiger Offenheit und optischer Brillanz. Eben großes Kino. 

Grit Dora

 

Contra

Seit einigen Jahren gilt für die Kinobranche, dass Filme mit Preisen in Cannes oder Venedig für die deutsche Kinokasse keine Relevanz haben (die Berlinale läuft diesbezüglich eh unter dem Radar). Preisgekrönte Filme liefen mit konstanter Regelmäßigkeit am großen Publikum vorbei. Auf einmal ist alles anderes. Bong Joon-ho realisiert mit »Parasite« einen Film, der sich in die Herzen der Jurys, Kritiker und des Publikums bohrt. Interessanterweise ist mit »Joker« aktuell ein weiterer Preisträger sehr erfolgreich im deutschen Kinos vertreten. Mag sein, dass sich in Cannes und Venedig auch einiges verändert hat, es kann natürlich auch nur am Filmangebot und verändertem Zuschauerverhalten liegen. 

Mit seinem dritten Film »The Host«, einem verrückten Kinoabenteuer über Mutationen, fremde Soldaten und Patriotismus, holte Bong Joon-ho 2007 fast jeden dritten Südkoreaner in die Kinos. Und mit »Snowpiercer«, dem abgefahrenen Zug, der durch die verlassene, in Eis erstarrte Welt rast, eroberte er die internationalen Leinwände (ein gewisser Harvey Weinstein, Produzent stritt 2014 über Filmlängen und Zumutbarkeiten). Es folgte mit »Okja« eine satirische Produktion über die Freundschaft zwischen einem Mädchen und dem Riesenschwein Okja für einen Streamingdienst. Nun also sein neuester Film, ohne Frage meisterhaft in seiner Inszenierung, Bildsprache und Darstellung.

 

Bong Joon-ho verzichtet auf für die Kritik lieb gewordenen koreanischen Besonderheiten zugunsten Stringenz und einer universellen Erzählweise. Das ist der Schlüssel für seinen Erfolg, stellt aber auch gleichzeitig die größten Kritikpunkt dar. 

Die Handlung wird auf das wesentlichste reduziert, sie entwickelt sich in gerade mal einer Handvoll Szenen und überrascht durch ihre Fallhöhe und zwei dramatische Wendungen. Mit der geradlinigen und schnörkellosen Inszenierung einher gehen aber viele Details verloren. Die Figurenzeichnung ist schlicht, mit wenigen Strichen werden Familie Kim und Park skizziert. Die feindliche Übernahme des Hauses erfolgt so elegant und professionell wie in einer besseren Gangsterkomödie. 

Der vielfach gefeierter klassenkämpferische Aspekt erschließt sich dabei nicht wirklich. Familie Kim, eine übrigens sehr nette und bestens harmonierende Familie, erscheint viel zu perfekt für die Souterrains der Unterstadt. Eher werden allgemeine moralische Fragen thematisiert, strebsame, planvolle Menschen wie die Parks gegen sich treiben lassende, im Moment lebende Menschen wie die Kims. Es werden Lebensentwürfe verhandelt, abgewogen und kaum bewertet. Auch das exotische Moment, die Besonderheiten der koreanischen Kultur gehen im globalisierten, gleichgeschalteten Interior unter. Schade, aber so ist das heute wohl. Das sehr stringente Ende überrascht nicht wirklich, eher noch durch seine moderate Auflösung. Park Chan-wook (»Oldboy«) oder die Coens hätten das sicherlich fetter inszeniert. 

Der Film erinnert in seinem Setting und Ort an »Das Hausmädchen« von Im Sang-soo (2010). War es dort ein besonders krasser Vertreter der Oberschicht, der sich nahm, was er braucht und das hübsche Hausmädchen Eun-yi in größte Schwierigkeiten brachte, kehrt sich in »Parasite« das Szenarium um. Die Familie in der Villa hat trotz Reichtum ihre Freundlichkeit und Offenheit nicht verloren – Mutter Kim sagt, sie können sich das leisten -, Coolness ist der neue Zeitgeist. Da bleibt für klassenkämpferische Attitüden nicht so viel Raum. »Parasite« sozusagen als eine südkoreanische Low-Carb Variante, als Ausdruck des Zeitgeistes, quasi unverbindlich aber toll anzuschauen.  

Mersaw


PS: Eine Besonderheit galt es zu beachten. „Wenn Sie eine Rezension über diesen Film schreiben, verzichten Sie bitte so weit wie möglich darauf, zu verraten, wie die Geschichte sich entfaltet, nachdem der Bruder und die Schwester beginnen, als Nachhilfelehrer zu arbeiten. Ich bitte Sie inständig: Verzichten Sie auf Spoiler. Vielen Dank.“ Bong Joon Ho

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