Die kommenden Tage

Drama, Deutschland 2010, 130 min

Rechnet man vom 30. September 2010 in Stuttgart mal konsequent zehn Jahre weiter, landet der halbwegs phantasiebegabte und politisch motivierte Demokrat in einer beängstigenden Sackgasse, die im vorliegenden Film die Festung Europa genannt wird. Draußen tobt der 4. Golfkrieg, es geht um Öl, drinnen tobt das Volk auf den Straßen, es geht um den Egoismus weniger und um den sozialen Abstieg vieler Menschen. Und an den hochgezogenen Festungstoren der EU rennen die Migranten sich die Köpfe ein. Die Welle aus Nordafrika und Westasien kann immer noch zurückgedrängt werden, aber auch auf diesem Schlachtfeld müssen demnächst politische wie physische Verluste eingeplant werden. Schuld daran sind unter anderem die Schwarzen Stürme, eine international aufgestellte Bewegung linksanarchistischer Straßenkämpfer, die die Zivilisation in ihrer jetzigen Form abschaffen wollen. Angesichts des allgegenwärtigen Zerfalls greifen sie die Bundesregierung auf offener Straße sowie im virtuellen Raum an. Mitten in dieser spannungsgeladenen Zeit ringen zwei ganz unterschiedliche Schwestern um einen Rest Selbstachtung und um ihre Familie, die in diesen Tagen vollends zerfällt. Laura (Bernadette Herwaagen) zieht es noch immer hin zu einem romantisch verklärten Familienidyll, sie wünscht sich im Augenblick größten Pessimismus' ausgerechnet ein Baby von einem angehenden Anwalt (Daniel Brühl), und ihre Schwester Cecilia (Johanna Wokalek) folgt vollkommen selbstlos einem freigeistigen Mittelständler (August Diehl) zu den Sturm-Aktivisten auf die Straße. Wer bei diesem Sujet an so grauenvoll schlechten TV-Schrott wie »Die Grenze« denken muss, darf sich entspannen, denn hier wird intelligent recherchiertes Was-wäre-wenn-Kino geboten. Die Zukunft ist in Lars Kraumes Society-Fiction gesellschaftlich gut durchdacht und technisch aufregend gestylt, sie ist widersprüchlich, weil düstere Dystopie und hoffnungsvolle Elemente ein wohl geordnetes Chaos ergeben, und sie ist am Ende humanistisch.
alpa kino