Das Fenster gegenüber

Drama, Italien/Großbritannien/Türkei/Portugal 2003, 106 min

Wenn man lange genug auf der Straßenseite mit den geraden Hausnummern gelebt und dabei immerzu hinüber geschaut hat auf die Menschen in den Fenstern gegenüber, wünscht man sich nichts sehnlicher als mit ihnen tauschen zu können. Mit jenen, die glücklich sind, ohne Sorgen und immer fröhlich, weil sie auf der anderen Seite wohnen. Auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern. Da, wo man selbst nicht ist. Denn da ist das Glück.
Es ist ein ausgemachter Fluch und ein Segen zugleich, dass der Mensch immer erstrebt, was er nicht hat. Dabei genügte manchmal die bloße Gelegenheit, am Fenster gegenüber stehen zu können und einen langen, aufmerksamen Blick auf das eigene Leben werfen zu dürfen. Wir wären geheilt. Mit Ferzan Özpetek und seinem neuen Film kommt jetzt die helfende Medizin. Ihm gelingt großes Kino dank des wundervollen Massimo Girotti und der attraktiven Giovanna Mezzogiorno. Girotti spielte seine Rolle unter ärztlicher Aufsicht und verstarb noch vor der Premiere im Alter von 85 Jahren.
Noch ahnungslos und ohne heilsame Medizin ausgestattet, begegnen wir Giovanna und Filippo. Sie erscheinen ganz unvermittelt, nachdem uns der Vorspann des Filmes wieder in die Gegenwart entlässt. Seit neun Jahren verheiratet, sind Giovanna und Filippo die ganz normal gestressten Eltern zweier Kinder. Von Giovanna geht dabei eine seltsame Gereiztheit aus, die sich zwischenzeitlich erklären ließe mit; typisch italienischem Temperament oder der Tatsache, dass es Giovanna ist, die größtenteils für den Unterhalt der Familie zu sorgen hat. Dazu kommt dieser fremde, alte Mann. Filippo liest ihn von der Straße auf, da er verwirrt scheint und sich nur an den Namen Simone erinnern kann. Er wirkt wie ein Fremdkörper auf das eingespielte Leben der Beiden. Die Kinder finden ihn lustig, doch Giovanna macht keinen Hehl daraus, ihn so schnell wie möglich wieder loswerden zu wollen. Erst nach und nach bekommt die innere Unzufriedenheit Giovannas eine greifbare Kontur und ein Gesicht. Es ist das Gesicht eines anderen Mannes. Nachts, wenn die Kinder schlafen und Filippo gelegentlich arbeiten geht, steht sie, in der Dunkelheit eine Zigarette rauchend, am Küchenfenster und schaut dem jungen Mann im Fenster gegenüber zu. Die verlorene Sehnsucht und Zärtlichkeit auf ihrem Antlitz sprechen eine andere Sprache, als es ihre Gefühlskälte dem alten Simone gegenüber vorgibt. Dabei ist Simone der Stein des Anstoßes für die sich anbahnende Romanze zwischen Giovanna und dem attraktiven Lorenzo von gegenüber. Fast hat man das Gefühl, der Alte bringt die Beiden absichtlich zusammen. Weil er sich wieder an das erinnert, was ihn so verwirrt hat. Von Liebe fällt ihm etwas ein, von hundertfacher Verschleppung und von tausendfachem Tod. Von zurückgehaltenem Leben und unerfüllten Träumen. Und dann gelingt dem Film die schönste Liebeserklärung im neuen 21. Jahrhundert, wenn Giovanna die Worte des alten Simone nachts am Küchenfenster in das Telefon flüstert.
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